Der Zwang zu heilen ist genauso bösartig wie der Zwang zu verletzen. In Wahrheit sind sie die beiden Seiten derselben Medaille.

Wenn es ,,chic“ ist, Opfer eines Kindheitstraumas oder sexuellen Missbrauchs zu sein, machen Therapeuten es sich nur zu leicht, indem sie ihren Klienten Worte zurecht legen. Erinnerungen an Geschehnisse, die nie passierten, werden auf den Altar gehoben. Vorfälle geringeren Mangels an Einfühlsamkeit oder Nachlässigkeit werden übertrieben und mit der Sprache der Angst und Schuld ausgemalt. Jeder stellt sich vor, dass das Schlimmste geschehen sein muss. Das ist Hysterie, keine Heilung. Das ist eine weitere Form des Missbrauchs.

Anstatt herauszufinden, was geschehen ist, und dem Inneren Kind zu erlauben zu sprechen, wird ein professioneller Begriff auf die Wunde geklebt. Die Stimme des Opfers wird wieder einmal unterdrückt und ihm wird die Ansicht eines anderen übergestülpt, was angeblich geschehen war. Um Anerkennung zu bekommen, erzählt das verwundete Kind der Autoritätsfigur – in diesem Fall seinem Therapeuten- die Geschichte, die dieser hören möchte. Man hat dem Kind gesagt, dass es ihm gut gehen wird, wenn es sich der Autorität überlässt. Der Therapeut projiziert seine eigenen ungeheilten Wunden auf seinen Klienten. Seine Subjektivität wird von den Gerichten für Objektivität gehalten. Familien werden getrennt. Weitere Kinder werden bestraft. Die Kette des Missbrauchs geht weiter.

Der ungeheilte Heiler macht seinen Patienten nur allzu leicht zum Opfer, und beschuldigt schnell Andere. In dessen Verlauf ist der Patient aller Würde und allen Selbstwertes beraubt. Er wird abhängig von einer ständigen Medikamenteneinnahme und von ärztlichen Autoritätsfiguren. Wenn du den Heilungsprozess nicht gefährden willst, musst du Extreme wie die Verleugnung oder das Verursachen von Schmerz vermeiden. Der Schmerz muss angegangen, nicht erfunden werden. Wenn er vorhanden ist, wird er sich authentisch zu Wort melden. Er wird mit seiner eigenen Stimme sprechen. Deine Aufgabe ist es diese Stimme einzuladen zu sprechen und nicht, ihr Worte vorzukauen, die sie sagen soll.

Die Anhaftung an Schmerz schwächt. Die Beschönigung, Übertreibung oder das Hervorrufen von Schmerz ist krankhaft und führt zu größerer Zerstückelung des Bewusstseins und zu verstärkter Unausgewogenheit der Psyche.

Du musst das Geschehene weder Verleugnen noch erfinden. Du musst dir eingestehen was geschehen ist – so unerfreulich oder schmerzvoll das sein mag – wenn nötig, mit Hilfe eines Therapeuten. Das führt zu dem Beginn der Verlagerung von der Unwahrheit zur Wahrheit, von Geheimnissen zur Offenlegung, von verborgenem Unwohlsein zur bewussten Wahrnehmung von Schmerz. Der Schmerz ist ein Tor, durch das du gehen kannst, wenn du dazu bereit bist. Bis dahin bist du der Türsteher, der Wache steht und entscheidet, wer abgewiesen und wer eingelassen werden darf.

Es ist in Ordnung, nicht bereit zu sein. Es ist in Ordnung Menschen oder Situationen auszuschließen, die sich unsicher anfühlen. Du bist verantwortlich für deinen Heilungsprozess. Du entscheidest, wie schnell du vorangehen möchtest. Lass dir von niemandem das Tempo für deinen Heilungsprozess vorschreiben. Wenn du mit einem Therapeuten/Heiler arbeitest, stelle sicher, dass er immer weiß, wann du dich gedrängt oder auf eine andere Art verunsichert fühlst.

Deinen eigenen Prozess zu ehren ist grundlegend, um ein authentisch gelebtes Leben zu leben. Andere mögen andere Vorstellungen, Vorschläge oder Pläne für dich haben. Danke Ihnen für ihre Anteilnahme, stelle aber klar, dass nicht sie, sondern du die Entscheidungen für dein Leben triffst.

(Auszug aus Paul Ferrini – Liebe ist die einzige Antwort)