Die Landkarte deines Nervensystems – eine Einführung in die Polyvagal-Theorie

Es ist wichtig, dass wir auch in schwierigen, holprigen Zeiten unseres Lebens unsere Eigenverantwortung nie ganz an professionelle Helfer oder sogenannte Experten abgeben. Dies hat wohl die Corona-Krise sehr deutlich gezeigt. Trotzdem kann es unter Umständen doch hilfreich sein, sich eine Zeit lang kompetent und feinfühlig begleiten zu lassen.

Gerade wenn wir sehr belastende oder gar traumatisierende Lebensereignisse integrieren müssen, vor großen Herausforderungen stehen (z.B. der nahende Verlust eines nahestehenden Angehörigen) und unsere individuellen Kompensationsmöglichkeiten durch langanhaltende Überforderung aufgebraucht sind, ist es sogar ein Zeichen von innerer Stärke, sich Unterstützung zu suchen, um neue Tools zu erlernen und so zurück zu einem Gefühl der Selbstwirksamkeit und dadurch zur Selbstbestimmung zu gelangen.

,,Verbundenheit ist der Schlüssel zur Heilung von Trauma. Schaffe Räume der Verbundenheit, übe dich in Verbundenheit, und du entwickelst eine heilsame Präsenz.“ (Verena König)

Nicht ausreichend integriertes Traumamaterial bzw. traumatische Lebensereignisse schlagen sich häufig in unserem Nervensystem nieder und können dort (auch nach Jahren) nicht nur zu psychischen, sondern auch zu körperlichen Symptomen führen, denn körperliche Symptome sind häufig an Traumaenergie geknüpft. Unspezifische körperliche Beschwerden, denen keine nachweisbare strukturelle Veränderung zugrunde liegt, können unbewusste Erinnerungen des Körpers an traumatische Ereignisse sein, denn unser Körper hat ein Gedächtnis, in dem die Erfahrungen unseres Lebens gespeichert werden. Unser Körper wird also sozusagen im Laufe unseres Lebens ,,beschrieben“. Körperorientierte Interventionen, die dir helfen, in akuten, dysbalancierten Zuständen zurück in Balance zu finden, sind also innerhalb ganzheitlich-integrativer Traumaarbeit essenziell.

Bei der Wahl deines Begleiters könntest du zum Beispiel darauf achten, ob er/sie die Polyvagal-Theorie zumindest ansatzweise kennt.

Sehr vereinfacht zusammengefasst besagt die Polyvagal-Theorie, dass es der Zustand deines Körpers ist, der darüber entscheidet, wie du die Welt psychisch und emotional wahrnimmst.

Bei aller Theorie, die ich dir im Folgenden auch noch etwas näherbringen möchte, ist jedoch am Ende das Wichtigste, und das solltest du unbedingt beachten, dass dir der dich begleitende Mensch erstmal grundlegend sympathisch ist – sonst hilft auch das größte Fachwissen nichts…Denn die Bindungstheorie zeigt in Zusammenhang mit der Neurobiologie, dass die Beziehung zwischen Klient und Begleiter/in für heilsame Prozesse das grundlegend Wichtigste ist. Beziehung meint im optimalen Fall das Gefühl von Verbindung/Verbundenheit. Eine Liste mit potenziellen Begleitern, die in Neurosystemischer Integration nach Verena König ausgebildet sind, findest du hier:

In dieser Methode lasse ich mich selbst gerade weiterbilden und bin sehr begeistert, da hier ganzheitlich-integrativ gedacht wird und die neuesten Erkenntnisse aus der Neurobiologie, der systemischen Therapie, der Ego-State-Therapie (oder auch Anteile-Arbeit), der Hypnosystemik (Arbeit auf imaginativer Ebene), der Psychotraumatologie sowie der bindungs- und körperorientierten Psychotherapie vermittelt werden. Auch die Polyvagal-Theorie des amerikanischen Professors für Psychiatrie Stephen W. Porges spielt hier eine tragende Rolle.

Ich finde es gerade vor dem Hintergrund der globalen und gesellschaftlichen Geschehnisse in den letzten 3 Jahren (und natürlich auch vor einem persönlichen Hintergrund) sehr interessant, mich generell mit Trauma und vor allem auch mit Entwicklungs- und Bindungstrauma zu beschäftigen und mir in diesem Bereich Wissen anzueignen.

Denn wie sagte Mahatma Gandhi schon so weise:

,,Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“

Wer in dieser Welt friedvoll und gut leben und seinen Teil dazu beitragen möchte, dass Geschichte sich eben nicht ständig wiederholt, kommt wohl um das Wissen um Trauma nicht herum. Denn je höher das Bewusstsein und die Kenntnis unserer Selbst, desto klarer können wir auch andere Menschen sehen.

Hier nun also eine kleine Einführung in die Polyvagal-Theorie:

Wie du oben in der Landkarte sehen kannst, ist der Nervus Vagus mit seinem ventralen (vorderseitigen) und seinem dorsalen (rückseitigen) Zweig Teil des parasympathischen und damit des autonomen oder vegetativen Nervensystems.

Funktionen des Parasympathikus

Sympathikus und Parasympathikus erfüllen in unserem Organismus zwar sehr unterschiedliche Aufgaben, sind aber nicht (wie oft dargestellt) Antagonisten (Gegenspieler), sondern arbeiten vielmehr miteinander.

Der Parasympathikus ist zuständig für die autonomen Prozesse, die in Ruhe und Entspannung ablaufen. Dieser Teil unseres Nervensystems ist besonders bedeutsam für das Gestalten, Erleben und Empfinden von Verbundenheit und unseren Ausdruck als soziale Wesen. Er hilft uns Gelerntes zu integrieren und in Ruhe Kraft zu tanken. Eine einfache Methode um den Parasympathikus zu aktivieren ist beispielsweise die bewusste Verlängerung der Ausatmung.

Neben dem Gestalten von Verbundenheit ist ein anderer Teil des Parasympathikus zuständig für tiefe Entspannung, aber auch für die Notlösung des Totstellreflexes mit emotionaler Taubheit, körperlicher Starre und Immobilität.

Auf körperlicher Ebene bewirkt die Aktivierung des Parasympathikus eine Senkung

  • der Herztätigkeit
  • des Muskeltonus
  • des Stoffwechsels und
  • des Blutdrucks

Darüber hinaus führt er zu einer Verengung deiner Bronchien und Pupillen und sorgt für den Abbau von Stresshormonen. Die Verdauungstätigkeit sowie die Speichelsekretion nehmen zu und die Schweißsekretion wird gehemmt. Ist der Parasympathikus aktiv, wird die Energiezufuhr zu Organen, die für Regeneration wichtig sind, erhöht und die Energiezufuhr zu Organen, die für Aktivitäten wichtig sind, gedrosselt.

Der ventrale Vagus – Adresse von Co-Regulation

Der Vagusnerv ist nun Teil unseres parasympathischen Nervensystems und wiederum unterteilt in einen vorderseitigen und einen rückseitigen Zweig.

Der ventrale (vorderseitige) Vagus ist sozusagen ,,Kind“ der sozialen Interaktion. Dieser Zweig unseres Nervensystems ermöglicht uns feinfühlige Interaktion und kann uns mit tief empfundener Verbundenheit beschenken. Er reagiert auf innere und äußere Signale, die Sicherheit anzeigen.

Der ventrale Vagus

  • versorgt Teile des Gehörs
  • den Zungengrund
  • den Kehlkopf mit den Stimmbändern
  • sowie unsere Mimik (weshalb das Tragen von Masken wohl eher nicht das Erleben von Verbundenheit stärkt – es erschwert uns deutlich das ,,Lesen“ des Gefühlszustandes unseres Gegenübers)

Im Zustand ventral-vagaler Aktivierung sind wir empathisch und aufgeschlossen, fühlen uns in Harmonie mit anderen und nehmen unbewusst wahr, wie es anderen geht. Wir schwingen dann sozusagen mit dem anderen Nervensystem. Darüber hinaus fühlen wir uns auch mit uns selbst verbunden und sind präsent im Hier und Jetzt.

Zwei Beispiele ventral-vagaler Interaktion sind

  • eine Mutter, die mit ihrem kleinen Kind Fingerspiele macht oder
  • gemeinsames tanzen, musizieren oder das Kuscheln mit einem geliebten Tier

Wenn wir in dysregulierte Zustände geraten (beispielsweise, weil uns etwas triggert und ein inneres Stresserleben mit hoher sympathikotoner Erregung erzeugt), ist der ventrale Vagus in der traumasensiblen Prozessbegleitung immer auch die Adresse von Co-Regulation (schau einmal hier meinen Artikel zu Selbst- und Co-Regulation mit einer einfachen Basisübung zur Selbstregulation).

Inzwischen gibt es zahlreiche Bücher auf dem Markt, die sich mit dem Vagusnerv beschäftigen und Übungen zu dessen Aktivierung zeigen, die die Selbstheilungskräfte aktivieren, unter anderem dieses hier:

https://www.buch7.de/suche?utf8=%E2%9C%93&search=stanley+rosenberg&category=&commit=Suchen

Beachte aber auch, dass unser Leben hier auf der Erde nicht in transpersonalen Bewusstseinszuständen stattfindet und dass es auch nicht darum gehen kann, immer mehr Selbsthilfeliteratur zu konsumieren und alles alleine zu schaffen. Was ich damit sagen möchte ist, dass das Gefühl der Verbundenheit mit anderen feinfühligen Menschen in schweren Zeiten wohl den wesentlichsten Beitrag zu Heilung leisten kann.

Möchtest du dir insgesamt mehr Wissen in diesem Bereich aneignen, so kann ich dir den folgenden Kongress sehr ans Herz legen, auf dem viele Experten in spannenden Interviews zu Wort gekommen sind:

https://www.trauma-transformation.net/

Ich wünsche dir ein wundervolles Jahr 2023 mit Freiheit, Mut und Liebe!